ZBW MediaTalk

von Claudia Sittner

Der 2021 EDUCAUSE Horizon Report Teaching and Learning Edition wurde Ende April 2021 veröffentlicht und beschäftigt sich damit, welche Trends, Technologien und Praktiken die Lehre und das Lernen gerade umtreiben und inwiefern sie deren Zukunft maßgeblich formen werden.

Dabei spielt der Bericht vier unterschiedliche Szenarien durch, wie die Zukunft der Hochschulbildung aussehen könnte: Wachstum, Einschränkung, Zusammenbruch oder Transformation. Welches Szenario sich durchsetzt, wird die Zeit zeigen. Vor diesem Hintergrund haben wir uns den Horizon Report 2021 angeschaut, um zu sehen, welche Trends sich daraus für wissenschaftliche Bibliotheken und Informationsinfrastruktur-Einrichtungen ergeben.

Künstliche Intelligenz

Künstliche Intelligenz (KI) hat seit dem letzten Horizon Report 2020 rasante Fortschritte gemacht, sodass die Menschen gar nicht schnell genug hinterherkommen, die technischen Fortschritte der Maschinen in der natürlichen Sprachverarbeitung (natural language proceedings) zu testen. Aus Deep Learning hat sich das selbstüberwachte Lernen (self-supervised learning) weiterentwickelt, bei dem die KI aus rohen oder nicht-beschrifteten Daten lernt.

Dabei spielt künstliche Intelligenz potenziell in allen Hochschulbereichen eine Rolle, in denen es ums Lernen, Lehren und den Lernerfolg geht: Unterstützung von barrierefreien Apps, Studierendeninformations- und Lernmanagementsysteme, Prüfungswesen genauso wie bei den Bibliotheksdiensten, um nur einige zu nennen. Außerdem kann KI dabei helfen, Lernerfahrungen zu analysieren und zu erkennen, wenn Studierende akademisch ins Straucheln zu geraten scheinen. Die viel umfangreicheren Analysemöglichkeiten, die sich dadurch ergeben haben, dass der überwiegende Teil von Lernveranstaltungen online stattfindet und eine breite Spur an analysierbaren Daten hinterlässt, können dazu beitragen, Studierende besser zu verstehen und die Lernerfahrungen schneller an ihre Bedürfnisse anzupassen.

Doch KI bleibt auch kontrovers: Bei allen Vorteilen bleiben Fragen zu Privatsphäre, Datenschutz und ethischen Aspekten oft nur unbefriedigend beantwortet. So gibt es beispielsweise KI-unterstützte Programme, die Texte paraphrasieren, damit wiederum andere KI-gestützte Programme zum Entdecken von Plagiaten nicht anschlagen.

Open Educational Resources

Für Open Educational Resources (OER) hat die Pandemie nicht viel verändert, sind viele der OER-Angebote ohnehin „digital geboren“. Vorteile von OER wie Kostenersparnis (Studierende müssen weniger Literatur kaufen), soziale Gleichheit (kostenlos und von überall) und die Tatsache, dass die Materialien schneller aktualisiert werden, gewinnen jedoch an Bedeutung. Trotz dieser offensichtlichen Vorteile und der Zwänge, die Corona mit sich brachte, sind bislang jedoch nur wenige Lehrkräfte auf OER umgestiegen wie der Bericht „Digital Texts in Times of COVID” (PDF) zeigt. 87% der Lehrenden empfehlen hiernach immer noch dieselben, kostenpflichtigen Textbücher.

OER bieten weiterhin viele Möglichkeiten, wie dass Dozent:innen Fragen zur Selbsteinschätzung direkt in Seiten neben Text-, Audio- und Videoinhalten einbetten und Schüler:innen sofortiges Feedback erhalten. In einigen Projekten werden – neben anderen Gruppen aus dem wissenschaftlichen Ökosystem – auch Bibliotheken und Studierende bei der Entwicklung von Materialien als OER-Spezialist:innen miteinbezogen und helfen dabei, Barrieren innerhalb des Fachbereichs zu beseitigen und die Materialien aus ihrer speziellen Perspektive neu zu gestalten.

In Europa setzt sich beispielsweise das Projekt ENCORE+ – European Network for Catalyzing Open Resources in Education für den Aufbau eines umfangreichen OER-Ökosystems ein. Ebenfalls interessant: der „Code of Best Practices in Fair Use für Open Educational Resources”. Für Bibliothekar:innen kann er ein Hilfsmittel sein, wenn sie OER erstellen und dabei andere, auch urheberrechtlich geschützte Daten verwenden möchten.

Lernanalyse

Online-Kurse erzeugen jede Menge Daten: Wie viele Lernende haben teilgenommen? Wann sind sie gekommen? Wann gegangen? Wie haben sie interagiert? Was funktioniert und was nicht? In der Hochschulbildung soll die Lerndaten-Analyse helfen bessere, evidenzbasierte Entscheidungen zu treffen, um die immer vielfältiger werdende Gruppe der Lernenden bestmöglich zu unterstützen. Auch wissenschaftliche Bibliotheken nutzen solche Daten oft, um die Bedürfnisse der Lernenden besser zu verstehen, zu interpretieren, zeitnah zu reagieren und nachzujustieren.

Die Bibliotheken an der Universität Syracuse (USA) hat ihre Nutzer:innendaten beispielsweise über eine Schnittstelle an das universitätseigene Lern-Analyse-Programm (CLLASS) übermittelt. Dafür wurde ein eigenes Bibliotheksprofil entwickelt, das mit den Werten, ethischen Grundsätzen und Standards sowie den Richtlinien und Praktiken der Bibliothek übereinstimmte. So wurde eine verantwortungsvolle und kontrollierte Übermittlung relevanter Daten möglich, und es konnte ein Lernenden-Profil aus unterschiedlichen Quellen des Campus erstellt werden.

Genau wie beim Einsatz von künstlicher Intelligenz gibt es auch in diesem Bereich viele Einwände in Bezug auf moralische Aspekte und Datenschutz. In jedem Fall erfordert der Umgang mit derartigen Lerndaten eine Sensibilisierung und ein spezielles Training, damit Lehrende, Berater:innen und Studierende Daten sinnvoll verwenden und die richtigen Schlüsse ziehen können. Am Ende könnten Studierende durch den gesamten Prozess von der Einschreibung bis zum Abschluss auch virtuell maßgeschneidert betreut und unterstützt werden. Infrastrukturen für die Erfassung, Analyse und Implementierung von Daten sind dafür unerlässlich.

Mikrozertifikate

Mikrozertifikate (Microcredentials) sind neuartige Formen von Zertifizierungen oder Nachweise über bestimmte Fähigkeiten. Auch sie werden der immer vielschichtiger werdenden Population an Lernenden besser gerecht, als die klassischen Abschlüsse und Zertifikate. Anders als diese sind sie flexibler, über einen kürzeren Zeitraum angelegt und oft thematisch fokussierter. Das Spektrum der Microcredentials erstreckt sich über sechs Bereiche von Kurzkursen und Abzeichen (die sogenannten Badges), über Bootcamps bis hin zu den klassischen Studiengängen oder zertifizierten Programmen.

Die Mikrozertifikate erfreuen sich zunehmender Beliebtheit und lassen sich auch mit klassischen Zertifizierungen kombinieren. Besonderes Potenzial sieht der Horizon Report 2021 für Arbeitskräfte, die sich darüber gut um- und weiterbilden können. Wenig verwunderlich also, dass auch Unternehmen wie Google mit den Google Career Certificates auf der Bildfläche erscheinen. Für viele wissenschaftliche Institute bedeutet das, dass sie Architektur, Infrastruktur und Arbeitsabläufe ihrer traditionellen Zertifizierungssysteme weiterentwickeln und überdenken müssen.

Gemischte und hybride Kurs-Modelle

Aufgrund der Corona-Pandemie sprossen besonders im Sommer 2020 diverse gemischte und hybride Kursmodelle wie Pilze aus dem Boden. „Es ist klar, dass sich die Hochschulbildung schnell diversifiziert hat und dass diese Modelle bleiben werden“, heißt es im Bericht. Hybride Kurse ermöglichen mehr Flexibilität in der Kursgestaltung; Institute können ihre Kapazitäten nach Bedarf hochfahren und noch stärker auf die vielfältigen Bedürfnisse der Studierenden eingehen. Die meisten Studierenden bevorzugen jedoch immer noch die Face-to-Face-Lehre.

Neu erlernte technische Fähigkeiten und technischer Support haben dabei eine überragende Rolle gespielt. Mancherorts wurden neue Kursmodelle gemeinsam mit den Lernenden entwickelt. Auf der anderen Seite stehen klassische Praktiken (wie häufige Bewertungen, Breakout-Gruppen während Live-Kursbesprechungen und Check-in-Nachrichten an einzelne Studierende) weiterhin hoch im Kurs. Durch Corona rückte aber die mentale und soziale Gesundheit aller Beteiligten stärker in den Fokus; ihr sollte auch laut dem Horizon Report noch mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden.

Qualitatives Online-Lernen

Corona kam, und alles musste plötzlich online stattfinden. So ist es wenig verwunderlich, dass der Bedarf daran, qualitativ-hochwertige Online-Lernangebote zu gestalten, sinnvoll zu evaluieren und anzupassen, enorm gestiegen ist. Überrascht stellte manche:r fest, dass online zu lehren mehr Aufwand mit sich brachte, als einfach die Vor-Ort-Veranstaltung via Zoom anzubieten. Um Lernerfolge zu erreichen wurde Online-Qualitätssicherung ein Thema von höchster Relevanz.

Früh in der Pandemie begannen die Institute deshalb, Online-Portale oder -Hubs zu entwickeln, die für die Situation angepasste Materialien und Lehr-Strategien beinhalteten: für die Vermittlung von Inhalten, um die Beteiligung der Studierenden zu fördern und Bewertungsmechanismen zu überdenken.

Ein positives Beispiel ist der aus 12 Modulen bestehende Kurs “Quickstarter Online-Lehre” vom Hochschulforum Digitalisierung und der Gesellschaft für Medien in der Wissenschaft aus Deutschland. Mit diesem Kurs sollen Lehrende mit keiner oder wenig Online-Erfahrung unterstützt werden.

Das könnte Sie auch interessieren:

Über die Autorin:

Claudia Sittner studierte Journalistik und Sprachen in Hamburg und London. Sie war lange Zeit Referentin beim von der ZBW herausgegebenen Wirtschaftsdienst – Zeitschrift für Wirtschaftspolitik und ist heute Redakteurin des Blogs ZBW MediaTalk. Außerdem ist sie freiberufliche Reise-Bloggerin. Sie ist auch auf LinkedIn, Twitter und Xing zu finden.
Porträt: Claudia Sittner©

Claudia Sittner studierte Journalistik und Sprachen in Hamburg und London. Sie war lange Zeit Referentin beim von der ZBW herausgegebenen Wirtschaftsdienst – Zeitschrift für Wirtschaftspolitik und ist heute Redakteurin des Blogs ZBW MediaTalk. Außerdem ist sie freiberufliche Reise-Bloggerin. (Porträt: Claudia Sittner©)

Next Post